Projekt Elisa Memaj (2020)
Fünf Jahrzehnte Experimentiertheater
Ein Projekt von Elisa Memaj
Sprecher: Janis Hanenberg
50 Jahre sind eine lange oder kurze Zeitspanne. In jedem Fall ist viel passiert seit 1970, wir tragen zwar weniger Schlaghosen, kaufen aber unsere Möbel nach wie vor bei IKEA. Von RAF bis Coronakrise – was hat unser Ex nicht alles miterlebt! Um seine Geschichte zum 50-jährigen Jubiläum gebührend zu würdigen, ist dieses Projekt entstanden. Es basiert auf der Recherche nach Zeitungsartikeln über das Experimentiertheater im Archiv der Erlanger Nachrichten. Fünf ausgewählte Kritiken fungieren als Ausgangspunkt für erst geschriebene, dann gesprochene Texte über die einzelnen Jahrzehnte. Fünf fiktionale Figuren – jede repräsentativ für ein Jahrzehnt – monologisieren jeweils über eine Theaterkritik zu einer Aufführung im Experimentiertheater: Ein pazifistischer, aber nicht unpolitischer Hippie erzählt aus den 70ern, ein junger grüner Student wünscht sich in den 80ern, seine grünen Ideale auf die Weltbühne zu bringen, ein Kulturreaktionär, das Ende der Geschichte vor Augen, verzweifelt am Konzept des Experimentierens in den 90ern, ein Zocker und Fantasy-Fan plädiert in den 2000ern für Theateraufführungen von Computerspielen und ein Verlorener in den 2010ern vergleicht die Irrfahrt der Menschheit zwischen endlosen Möglichkeiten mit der Odyssee.
All diese Charaktere nehmen ihren Artikel zum Ausgangspunkt, um über ihre Zeit, ihre Ansichten und ihre Wünsche zu reflektieren, sich zum Theater zu positionieren und Parallelen zwischen der Kritik, dem Inhalt des jeweiligen Stücks und/oder der Inszenierungsart und dem Jahrzehnt, das sie vertreten, zu ziehen.
Die 1970er Jahre
Ich sage Ping, klicken Sie… [8:34 Minuten]
1970er: Hippie
Politisch engagiertes Theater. Klingt das nicht super?
Das Experimentiertheater experimentiert. Es zeigt eine neue Form des Spiels, es grenzt sich ab von der Institution Theater und ihren vermufften Strukturen und stellt gewissermaßen seine eigene und noch junge Identität vor. Anhand von Arthur und Victor, zwei Figuren aus dem Drama Ping Pong, gibt es sich absurd und originell. Gerahmt ist die Inszenierung von „zwei Ping Pong spielende[n] Greise[n] am Anfang und Ende der Aufführung.“
Der dem Menschen angeborene Spieltrieb darf nicht den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft unterworfen werden. Denn entwickelt sich dieser zu einem ehrgeizigen Streben nach Gewinnsucht und Macht, wie es in Ping Pong thematisiert wird, und wird „kommerziell ausgebeutet“, ist es aus mit dem Spiel. Dabei sind wir doch ludische Wesen, die es nun leider in eine absurd kranke Gesellschaft verschlagen hat. Wie schaffen wir es, diesen scheinbar übermächtigen Strukturen zu entfliehen? Aussteigen ist die Lösung, Flucht vor dem System in eine Gegengesellschaft. Protest durch Optimismus, Vielfarbigkeit, Natürlichkeit – ein Gegenmodell eben zum Flipperautomat, welcher in Ping Pong sinnbildlich für das menschlichen Eifern nach immer mehr steht.
Es wurde offenbar „ohne Schielen nach dem großen Stadt-Theater“ Regie geführt und geschauspielert. Zum Glück! Alles andere wäre wieder nur eine Anpassung an das kapitalistische System. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Aber behutsam. So richtig frei machen konnten sich die Aufführenden dann wohl doch nicht: „statt eines illusionistischen Bühnenbildes wurde ein optisch imponierendes Stangengerüst mit einem Laufrad im Mittelunkt konstruiert“ heißt es hier. Das erinnert mich aber doch zu sehr an Baustellen und Fabrikhallen, warum hätte man nicht Bäume nehmen können? Es kann doch nicht so schwer sein an mehr als nur ein paar Stellen ein bisschen mehr Farbe und Fröhlichkeit in unser Leben zu bringen. Mehr Blumen, mehr Liebe, mehr Empfinden. Zumindest im Theater muss das doch möglich sein. Gerade wenn es sich EXPERIMENTIERtheater nennt. Das wäre doch die ästhetische Identität, nach der gestrebt werden sollte.
Aber wieso hat man sich bloß musikalischer Motive aus „Clockwork Orange“ bedient? Der Film trieft vor Gewaltästhetisierung und das ist es sicher nicht, was unsere Welt braucht. Wir brauchen neue menschlichere Umgangsweisen und müssen wegkommen von der kalten Rationalität hin zu einem gewaltfreien Miteinander ohne das dauerhafte Streben nach Profit und Leistung. Nur die materielle Seite des Menschen wird gefördert und hervorgekehrt, alles andere, zu dem wir auch fähig sind, geht verloren oder ist vergraben. Letztes Jahr: das Attentat bei den Olympischen Spielen in München. Wäre das passiert, wenn alle Menschen Pazifisten wären? Der Bürgerkrieg in Nordirland, müsste man für religiöse Freiheit, nationale Selbstbestimmung und gegen soziale Ungerechtigkeit kämpfen, wenn wir in einer liberalen und für alle gerechten Welt zu Hause wären? Und der Vietnamkrieg läuft ja auch immer noch…An dieser Stelle sollte sich die Welt ein Beispiel an Willy Brandt nehmen. Durch seinen Kniefall in Warschau wurden Frieden und Demut bekundet. Nachdem sogar Deutschland nach zwei Weltkriegen verstanden hat, dass Hass und Gewalt nirgendwo hinführen und sich auf diese Art entschuldigt, sollte doch klar sein, dass Kriege uns nicht weiterbringen. Damals die Massaker in den Warschauer Ghettos, heute die amerikanischen Tiger Force in Vietnam und den Special Air Service in Nordirland. Krieg als die ultima irratio – Mensch: Frieden ist das Mittel und Ziel der Realpolitik– zumindest für Willy. Sein Mehr Demokratie wagen ist die Vorstufe zu wahrer Freiheit, dann können wir wieder zu den menschlichen und verspielten Wesen werden, die wir im Grunde sind und die – so wie im Theaterstück – durch den Kapitalismus verdrängt wurden.
Über die Inszenierung wird geschrieben: „die Ausführung aber war bei ihrer Premiere noch unfertig“. Warum sollte das denn schlimm sein? Warum sollte sich die Kunst überhaupt an irgendwelche vorgegebenen Fristen halten müssen? Solange die Schauspieler auf ihre Intuition vertrauen, sich gefühlsbetont und spontan der Vorstellung hingeben, sollte niemand solche belanglosen Vorwürfe in den Raum werfen. Warum immer diese Verurteilung neuer Formen, des Ausprobierens, des Sich-Zeit-nehmen. Immer muss optimiert und perfektioniert und beschleunigt werden. Es muss doch nicht immer alles eindeutig sein und für alle gleichermaßen Sinn ergeben. So hat jeder den Freiraum selbst eine spirituelle Interpretation vorzunehmen und wird nicht in irgendwelche Schemata gezwängt, die kalt und klar erkennbar sind und andere Bedeutungsinhalte unterdrücken. Wir müssen die Welt wieder in ihrer Vielfältigkeit wahrnehmen, uns über die kleinen Dinge freuen, den Alltag genießen. Hauptsache es wird nicht nach dem Prinzip unserer Leistungsgesellschaft gespielt.
Das Paradebeispiel dafür, dass es immer nur darum geht, ist die Behauptung, dass das Vorgeführte „der Straffung und Beschleunigung“ bedürfe. Da haben wir´s wieder: eine bestimmte Erwartungshaltung, die durch das szenische Geschehen anscheinend nicht erfüllt wird, dessen eigenwillige Ästhetik nicht akzeptiert wird. Dabei ist es doch lobenswert, dass sich dieser Regieversuch mal nicht an den Vorgaben des Stadttheaters orientiert;immerhin wird zugestanden, dass die Spielenden es verdienen, ernst genommen zu werden.
Eine antiautoritäre und enthierarchisierte Welt ist das, wonach alle streben sollten, wir brauchen Individualismus statt Konformismus, Kreativität statt Produktivität, Spiritualität statt Rationalismus. Auch wenn wir kritisiert werden genau wie die Aufführung von Ping Pong, ist es doch erlaubt Experimente zu wagen – auch im echten Leben. Und solange wir auch den Kapitalismus nicht abschaffen können, können wir ihn zumindest verschönern, schließlich wollen wir nicht unser Leben verspielen so wie Arthur und Victor in Ping Pong.
Die 1980er Jahre
Warten bis es Grün wird – Denken Sie an die Kinder! [7:43 Minuten]
1980er: Grüner Student
„El Trovador“ als Puppentheater. Endlich sitzen die Studenten am längeren Hebel. „Nur ganz am Anfang haben wir den Text studiert, dann ihn aber schnell weggelegt, um zu improvisieren“: Ausgetretene Pfade werden verlassen, es herrscht Aufbruchsstimmung. Da sieht man, was passiert, wenn Studenten zu den Strippenziehern werden: sie entwirren das Original, sind fähig zum Improvisieren und ernten begeisterten Applaus. Sie sind motiviert, phantasievoll, aber keine naiven Märchenerzähler.
„Schau mir in die Augen, Kleines“: Manrico, der Zigeuner und Namensgeber des Stücks, bemächtigt sich dieses Ausspruchs des feinen Gentlemans und bekommt die Gräfin Leonore. Es ist nicht mehr der schicke Typ im Anzug, der diese Worte sagen darf, sondern Leute, die in Wollpulli und Turnschuhen im Bundestag sitzen. Ich erinnere gerne an den Einzug im März ´83 mit Sonnenblumen und Zweigen einer umweltkranken Tanne in den Plenarsaal.
Im Stück stehen sich der fahrende Dichter und Sänger und der „Böse Graf Luna“ gegenüber – beide verliebt in Leonore, welche aber nur die Liebe des Troubadours erwidert. Als dieser von Luna gefangen genommen wird, begeht Leonore Selbstmord, zur Rettung des Geliebten. Hier in „El Trovador“ schafft es also die Liebe bis in den Tod alle Grenzen zu überwinden, müsste das nicht auch für Deutschland zu schaffen sein? Mitterand und Thatcher haben beschlossen durch einen Tunnel ihre Staaten zu verbinden. Wer Tunnel gräbt, überwindet Mauern! Sogar der Ärmelkanal kann das Zusammenwachsen der Völker nicht verhindern, dann werden wir es sicherlich auch bewältigen, Ost und West wieder zu vereinen.
Die „erfolgreiche Premiere“ beweist doch eindeutig, dass es funktioniert, wenn umgedacht wird, dass es nicht falsch ist, neue Wege zu gehen und dass diese Denkweise fortschrittlich und gut ist. Gerade der jungen Generation ist es eben nicht egal, dass ihre Kinder in einer zerstörten Umwelt aufwachsen werden. Sie ist es, die improvisieren, die Neues wagen muss, die auch Strippenzieher sein sollte. Der begonnene Marsch durch die Institutionen soll und muss erfolgreich weitergehen! Tschernobyl, saurer Regen, Baumsterben: unser Garten Eden existiert nicht mehr. Unsere Erde braucht uns! Und das war es ja noch nicht mit den Katastrophen: die Explosion der Challenger ist noch gar nicht lange her und dann natürlich das Toben des Golfkriegs… Ob die Welt wirklich so glücklich ist, wie es uns bei der Hochzeit des Jahrzehnts zwischen Prince Charles und Diana suggeriert wurde?
Wir brauchen neue Ideen, wir müssen „alle zusammen“ das Leben auf unserem Planeten Erde gestalten. Wie beim geschickten Einsetzen von Lichteffekten in „El Trovador“ im Experimentiertheater (wie es hier heißt) sollten auch wir verantwortungsbewusst und zielgenau die technischen Möglichkeiten nutzen, schließlich gibt es jetzt schon Tageslichtprojektoren in Schulen (jetzt können wir unseren Kindern Bilder davon zeigen, wie die Umwelt zerstört wird), Kopierer (was wahrscheinlich dazu führt, dass durch den erhöhten Papierverbrauch noch mehr Bäume sterben) und auf meinem neuen Personalausweis (eigentlich eher eine viel zu große Plastikkarte), der absolut fälschungssicher sein soll, befindet sich jetzt eine computerlesbare Zone. Auch wenn nicht alles davon in jedermanns Augen sinnvoll erscheint oder gut für Mutter Natur ist, so ist zumindest das Potential vorhanden, damit etwas Positives zu bewirken: wenn wir technische Neuerungen als Chance begreifen, um das Skript, das uns die Vergangenheit geschrieben hat, umzuschreiben, um dadurch vorgeschriebene Fehler zu verbessern und das Unglück zu verhindern, das uns allen droht. Wir könnten eine Möglichkeit finden umweltfreundlich Auto zu fahren, oder vielleicht finden wir anständige Alternativen für Atomenergie. So sehr ich die Natur und unseren blauen Planeten schützen will: wir leben nun mal im 20. Jahrhundert und es geht natürlich nicht allein darum neue Bäume zu pflanzen. Wir haben die Fähigkeit, Fehler der Vergangenheit ausmerzen, wir können bestimmen, welchen Weg wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gehen wollen. Wenn Technik nicht dafür eingesetzt wird, um noch mehr Autos zu produzieren, wenn gewissenhaft mit ihr umgegangen wird, liegt in ihr ein Potenzial, das wir verpflichtet sind zu nutzen. Was würde ich dafür geben, einmal wie im Theater punktgenau für ein konkretes und höheres Ziel die richtige Technik zur rechten Zeit einzusetzen, einmal meine grüne Version auf die Bühne zu bringen. Wenn es doch so einfach wäre…ein Regisseur, der nichts vorschreibt, ein Text, der mir nichts, dir nichts umgeschrieben werden kann. Das (Experimentier-)Theater ist wirklich ein astreiner Ort.
Das „Experiment [ist] vollauf gelungen“, „das im Original ziemlich wirre Buch“ wird von begeisterten und spielfreudigen Studiereden neu geordnet und vereinfacht. Endlich wird Klartext geredet, endlich neu perspektiviert, denn sind wir mal ehrlich, wer hat schon das 150 Jahre alte ursprüngliche Drama je gelesen, geschweige denn richtig verstanden? Das ist vergleichbar mit dem Skript, welches unser Leben, unsere Wirtschaft und Politik bestimmt. Es ist erforderlich, ja dringend notwendig, dass im Hinblick auf die Zukunft unvoreingenommen darauf geschaut wird, dass es verständlich gemacht wird, dass ein neuer Blickwinkel eingenommen wird. Daran sollten wir uns – im wahren Leben – ein Beispiel nehmen und „Verfremdungen, Kürzungen […] Modernisierungen“ der verbrauchten Schemata, Gesinnungen und Denkweisen vornehmen, es ist an der Zeit, fortschrittlich zu denken, veraltetes über Bord zu werfen – und dies wird uns allen durch ein studentisches Puppentheater deutlich gemacht wird.
Ich erinnere an dieser Stelle an Joschka Fischers unsterbliche Worte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“. Wenn einem sonst keiner zuhört, ist dies wohl die Richtung, die es einzuschlagen gilt. Dass die Studenten das verstanden haben, kann man an der Verwendung freier und lockerer Sprache in ihrem Stück sehen. Ein Puppenspiel, das von Studenten dirigiert wird, dirigiert werden muss. Denn es sind nur die alten Marionettenspieler, die dem schwarzen Gold hinterherjagen, und würde man endlich anfangen sich der Umwelt anzunehmen, müsste man auch keinen Golfkrieg führen. Und dann wäre tatsächlich wieder Zeit, um sich Theater, Kunst und Kultur zu widmen. Und wir hätten vielleicht wirklich mal einen Grund zum Lachen.
Die 1990er Jahre
Hier geht‘s zum Ende der Geschichte… [9:07 Minuten]
1990er: Versnobter Endzeit-Existenzialist, Kulturreaktionär
Wie hat Francis Fukuyama es vor zwei Jahren genannt: Das Ende der Geschichte. Haha, und nicht nur der Geschichte! Die Zeitung ist wieder mal voll mit Artikeln, Berichten, Bildern, die diese interessante, aber auch entmutigende Theorie untermauern. Sie scheint sich mit Blick auf unsere Gesellschaft tatsächlich zu bestätigen. Demokratie und Marktwirtschaft, die finalen Modelle unserer gesellschaftlichen Entwicklung, sind die Systeme, die am besten den Bedürfnissen der Menschen entsprechen und sich entweder schon durchgesetzt haben oder sicher bald noch werden. Natürlich gibt es Probleme, die auch Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie aufwerfen, durch andere Systeme verschlimmern die sich jedoch nur; wir sind also an dem Punkt angelangt, an dem wir nichts besseres mehr erreichen können: voilà, das Ende der Geschichte. Folglich ist nichts ganz Neues mehr möglich. Jede Thematik wurde schon einmal bearbeitet, und die jeweils beste Version oder Umsetzung ist erreicht. Deshalb kann es ja nur billigen Abklatsch von dem geben, was schon vorhanden ist oder schon einmal war, wir können gar keine neuen Glanzpunkte mehr erreichen. Wir sind fertig. Oder wir werden es demnächst sein. In Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Hier, der Kulturteil…bestimmt gibt es einen Artikel, der…ahja, hier zum Beispiel: „Das „Electra“-Projekt von Holger Schulze im Experimentiertheater“. Klar ist es besonders für Künstler deprimierend, das Ende der Geschichte zu akzeptieren, weil ja der Kern ihres Schaffens darin liegt, Neues zu kreieren. Und wenn das Erschaffene dann nicht besser werden kann als Etwas, was es schon gibt, dann bleibt nicht mehr viel an Sinn. Nun liegt es – in diesem Fall leider– grundsätzlich in der Natur des Menschen stets nach etwas anderem, besseren zu streben, zu suchen, zu forschen, er ist aber nun mal von vornherein zum Scheitern verurteilt, da… ich wiederhole mich.
Und genau das ist hier bei der Elektra-Inszenierung passiert: „nicht komisch, auch nicht traurig, nicht ärgerlich, sie war einfach nichts.“ Es gab ja gar keine andere Möglichkeit, wie das Stück werden musste, es konnte gar nicht anders kommen. Die sinnlose und wirkungslose Darbietung stelle einen „Grenzbereich des Theaterbegriffs“ dar; hier stößt das Theater im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen, sogar im Experimentiertheater ist ein Endpunkt erreicht. Das ganze Konzept des Experimentierens ist dahin. Sinnlos, reine Zeitverschwendung. Und wenn man auf Biegen und Brechen etwas Neues probieren will, kommt halt sowas wie dieses Elektra-Projekt dabei heraus. Es ist ja auch nachvollziehbar, dass man irgendwie weitermachen will…es ist ja auch wirklich äußerst ernüchternd, zu wissen, dass man seinen eigenen Namen nicht mehr in die Geschichtsbücher eintragen kann. Da bleibt nichts anderes, als schonmal dagewesenes „wiederaufzuführen“, aber dann doch bitte die bestmögliche Version. Theater macht nur noch Sinn, wenn man die Glanzstücke und -inszenierungen aus vergangener Zeit genauso nochmal aufführt, und nicht wie Holger Schulze „dafür ausgerechnet Hofmannsthals „Elektra“ mißbraucht“. Sogar inhaltlich lässt sich eine Parallele zu Fukuyama finden: Elektra, die ihr Leben wie besessen dem Rachegedanken an der Mutter widmet, Klytämnestra, die körperlich und seelisch zerfällt und Chrysothemis, die ein normales Leben wagt und daran scheitert, dass sie Vergangenes ignoriert. Die drei Schwestern sind nach der Ermordung ihres Vaters nicht mehr in der Lage, ihr Leben auf gewöhnliche Weise weiterzuleben, sie können mit den Geschehnissen der Vergangenheit nicht abschließen. Dieses eine Ereignis lässt sie nicht in der Gegenwart leben, sondern führt zu Wahnsinn, Zerfall und fortwährender Beschäftigung mit dem Gestern. Es verhindert Fortschritt, Entwicklung und neue Wagnisse. Auf gewisse Weise ist also sogar ihre Geschichte geschrieben. Wenn uns diese Inszenierung eines zeigt, dann dass ab jetzt alle weiteren Experimente scheitern müssen. Missbraucht doch bitte gar kein Stück mehr! Es wird eh nicht besser! Sämtliche Experimente seien hiermit abgeschlossen.
Und das zeigt uns auch die Zeit, in der wir leben: Flohmärkte und Tauschbörsen werden groß, man trägt also nur noch Sachen, die es früher schon gab. Inlineskates kommen gerade auf, was ja eigentlich auch nur eine verblödete Form der Rollschuhe ist. Mit dem Tod Freddy Mercurys geht es dann auch musikalisch bergab. Und, ach ja, das fällt mir gerade noch ein, die WM dieses Jahr war doch in den USA. Und die sind ja nun wirklich keine Fußball-Nation. Noch so ein fehlgeschlagenes Experiment. Es gibt unendlich viele Beispiele unserer Zeit, die das Stagnieren von Entwicklungen unterstreichen. Die Kritik zum „Electra-Projekt“ spricht mir aus der Seele: „es scheint alles so sinn-los“ fasst wohl am besten zusammen, was gerade passiert. Warum sind auf einmal Zickzackscheitel in Mode? Warum nur wird gerade die Pop-Literatur wiedergeboren?? Warum tragen die Frauen Spaghettiträger-Kleider ÜBER Shirt und Jeans??? Alles ist „offenbar bis zur Grenze des Schwachsinns verblödet“…
Hmm…was steht hier noch: „Die Schauspieler sind gelangweilt“. Tja, wahrscheinlich muss sich der Künstler damit abfinden, oder wir müssen uns damit abfinden, dass seine Definition des Künstlerdaseins der Vergangenheit angehört, also Teil der beendeten Geschichte ist. Vielleicht wäre das aber nicht ganz so schlimm, wenn man wenigstens die zwar alten, aber guten Versionen aufführen würde…Die einzige Möglichkeit noch halbwegs anständig Theater zu machen, liegt darin, die Idealinszenierungen der Vergangenheit erneut auf die Bühne zu bringen. Sonst ist Enttäuschung und „zweifelhafter Stuß“ vorprogrammiert. „Eine Antwort gibt es nicht“ (heißt es hier) und bekommt man auch nicht auf die Frage, warum man denn dann überhaupt noch ins Theater geht. Speziell ins Experimentiertheater. Und die Frage, warum der Zuschauer überhaupt gekommen sei, würde sich gar nicht mehr stellen, wenn man das Experimentieren sein lassen würde, denn das Überrascht-Werden im positiven Sinne gibt es ja nicht mehr. Das ist vorbei. Jeder würde wissen, was einen erwartet. Und versucht es doch wieder jemand mit Experimentieren, kann sich der Zuschauer sicher sein, dass ihn eine negative Überraschung und eine Enttäuschung erwartet. Genau wie die Elektra-Inszenierung. Also entweder auf das beste des Dagewesenen zurückgreifen und riskieren, dass man sich langweilt, oder akzeptieren, dass es aus ist mit neuen Entwicklungen und die Finger ganz von der Kunst lassen. Was in diesem Theater geschehen ist, bildet ab, was aus unserer Gesellschaft geworden ist. Und dass es eigentlich zum Experimentieren gedacht ist, hat überhaupt nichts mehr zu bedeuten. Wenn es nach mir ginge, könnte man alles abreißen. Ich bin des ganzen so überdrüssig, das Elektra-Beispiel ist fast schon abstoßend, Theater und unsere Zeit sind mir zuwider. Die Geschichte ist geschrieben. Das Experiment vorbei. Der Vorhang gefallen.
Die 2000er Jahre
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2000er: Fantasy-Fan und Zocker
Die Jahrtausendwende steht im Zeichen des Terrors: 9/11, der Krieg in Afghanistan, der drohende Irakkrieg…Warum müssen denn Kriege und Kämpfe immer auf der Weltbühne ausgetragen werden?Warum geht das denn nicht einfach online, virtuell oder meinetwegen im Theater? Schließlich leben wir in einer Zeit, in der immer mehr möglich wird; unsere Entwicklungen schreiten immer weiter voran, gibt es nicht andere Möglichkeiten, seine Kriege zu führen? Warum spielen George Bush und Saddam Hussein nicht einfach gegeneinander Counterstrike? Oder schauen sich halt im Experimentiertheater die Inszenierung der „Spanischen Tragödie“ an? Da gab es offenbar auch „viel vergossenes Blut“ und „einen ähnlichen Leichenberg wie […] bei „Hamlet“.“ Ob der durchschnittliche Millennial überhaupt noch weiß, wer Hamlet ist, sei dahingestellt; Tatsache ist, dass Gewalt und deren Ausübung – wenn sie schon ein solch zentraler Bestandteil der „Bestie Mensch“ sein soll und wohl offenbar in unserer Natur liegt – auch auf andere Weise dargestellt und ausgelebt werden kann, als im Moment auf den Schlachtfeldern im Nahen Osten. Zum Beispiel in Fantasyromanen. Oder in Computerspielen. Oder auf Theaterbühnen.
Würde man diese drei Formen von Medien verbinden, ergäben sich vielleicht neue Möglichkeiten der Vermittlung und des Umgangs mit Gewalt. Betrachtet man Computerspiele genauer, scheinen sie sich in bestimmten Punkten von Dramen gar nicht so sehr zu unterscheiden. Bei Diablo zum Beispiel ist sogar die Aktstruktur vorhanden! Sind sie folglich auch als Theatergrundlage geeignet? Spiele sind ästhetische und semiotische Artefakte, erzählen Geschichten, und lassen sich in den künstlerischen Diskurs einbinden. Sie können zum Beispiel schlicht als eine neue und weiterführende Ausprägung analoger Spiele gesehen werden. Oder der Spielakt selbst, die performative Praxis des Spielens, kann untersucht werden. Oder ihre Erzählstruktur analysiert werden. Sie haben so viel mit den im Theater szenisch umgesetzten Dramen gemein. Zudem vereinen sie in sich Geflechte intermedialer Strukturen, achja, Stichwort Intermedialität: die Medien Buch, Film und Computerspiel sind bereits in jeder Richtung miteinander vernetzt. Um nur ein Beispiel von Buch-basiert-auf-Spiel anzubringen: das Buch „Of Blood and Honour“ von 2001 basiert auf „Warcraft“ von ´94. Und „The Witcher“ ist ja auch schon in der Entwicklung. Es findet in alle Richtungen eine Verschränkung, ein Sich-Aufeinander-Beziehen verschiedener Medien statt. Dieser Trend wird sich in Zukunft sicherlich noch verstärken: Das, was man Theater nennt, sollte sich daran vermehrt beteiligen und mal was anderes ausprobieren als nur die Umsetzung von geschriebenen Büchern in szenische Darbietungen.
Denn das ist der nächste Schritt: bald wird vielleicht nicht mehr nur das uralte Drama auf der Bühne zu sehen sein, sondern möglicherweise eine Inszenierung von „Der Herr der Ringe“ oder sogar eines Computerspiels. Dieser Trend, dass Spiele zu Kassenschlagern werden, dass diese Art Medium immer mehr Zulauf bekommt, sollte vom Theater aufgenommen werden, könnte ihm sogar zu mehr Zuschauern verhelfen, ihm einen größeren Interessentenkreis einbringen. Wenn man dem neuen Leitmedium auf den Bühnen Platz einräumt. Wenn man sich darauf einlässt. Ansonsten sehe ich eine düstere Zukunft für die Theaterhäuser, es wird dringend Zeit für ein Upgrade, das aktuelle Level ist längt zu Ende gespielt. Und im Grunde sind hier schon die ersten, ganz zarten Ansätze zu erkennen, hier, in der „Spanischen Tragödie“. Ansätze, wie sie in Computerspielen seit Jahren gut funktionieren, im Literaturtheater aber nicht so richtig ihre Wirkung entfalten können. Warum also sollte es so absurd sein, mal ein Spiel zu inszenieren? Probiert es doch mal damit! Darin liegt das Potenzial! Und nicht in den beinahe kläglichen Versuchen hier…:„Bauteile des Bühnenbilds sind extrem variierbar“; wow! Eine flexible Bühne! Das heißt aus einzelnen Elementen lassen sich je nach Zusammensetzung und Verschiebung verschiedene Räume und Settings kreieren. Fast wie bei „Morrowind“. Aber eben doch nur fast…Vor dem Hintergrund des uralten Dramas kann das doch auch gar nicht wirklich cool sein. Und hier: Neue Medientechnik wird eingesetzt, es entstehen „schnelle Szenenwechsel und punktgenaue Lichtführung“. Das führt zu Dynamik, das soll wohl anregend, spannend, ansprechend sein. Ich weiß nicht, warum sollte ich denn dafür ins Theater gehen, wenn ich einfach zocken kann? Glaubt ihr wirklich, dass sich bald überhaupt noch jemand für 2 ½ Stunden ins Theater setzt? Niemand beschwert sich über die Länge der „Herr der Ringe“-Filme und „Diablo 2“ hätte sowieso niemand gekauft, wenn es nur zwei Stunden dauern würde. Aber Literaturtheater ist nunmal nicht so mitreißend, was soll man machen. „Regisseurin Silke Öchsner lässt der Story- und Figurenentfaltung in ihrer Zweieinhalb-Stunden-Inszenierung viel Zeit“. Das klingt nach Langeweile, nach Schlaftabletten und schmerzendem Hintern. Ja, natürlich braucht sowas Zeit…und funktioniert im dynamischen „Herr der Ringe“-Epos sehr gut, ist aber ohne entsprechende Technik, Effekte, Abwechselung schwierig…An sich freut sich ein Publikum darüber, wenn es mit den Charakteren mitfühlen, sie begleiten, lange mit ihnen Zeit verbringen darf. Überleg mal: Würde dich das Schicksal von Ronald Weasley wirklich interessieren, wenn du ihn nicht seit der ersten Klasse in Hogwarts kennen würdest?
Aber hier im Theater? Stundenlanges Geplänkel, ohne dass man selber irgendwie was Neues schafft, erreicht, weiterkommt. Ist doch klar, dass es da Aufmerksamkeitsprobleme gibt. Wenn ich zocke, bin ich dabei, sitze nicht nur davor. Davon müsste das Theater mehr haben, da würden sich doch neue Möglichkeiten auftun, es könnte eine neue Richtung einschlagen, und das Experimentiertheater ist der Ort, um das auszuprobieren. Um auszuprobieren, wie weit man gehen kann, was dem Publikum gefällt und was überhaupt nicht gut ankommt. Es wird höchstwahrscheinlich immer günstiger und leichter werden durch fortschreitende technische Möglichkeiten Effekte auf der Bühne darzustellen. Vielleicht wird Theater dadurch attraktiver und populärer? Wäre ich Theatermacher, würde ich auch damit rechnen, dass meine Zuschauer das früher oder später verlangen werden. Und dann ist doch wirklich das Ex der perfekte Probier-Ort. Den Nutzern steht hochmoderne Technik zur Verfügung und sie können im kleinen Rahmen vor einem überschaubaren Publikum Arten der Gewaltdarstellung, der möglichen dynamisierenden Effekte oder der Integration weiterer Medien testen. Mal ein bisschen das nächste Level erproben.
Und ja, es sind „immergrüne Themen: Neid, Intrige, Verrat“, auf jeden Fall! Waren sie im antiken Drama, sind sie in „Warcraft“. Das liegt einfach an uns Menschen. Und ist deshalb natürlich dauernd im Theater zu sehen. Aber es muss ja nicht immer das hunderte Jahre alte Drama sein, vielleicht hat der Plot von Computerspielen genau dasselbe Potential, Menschen zu bewegen, zu formen und zu bilden wie Sophokles? Vielleicht ist die Storyline eines Spiels genauso geeignet, um sie mal auf die Bühne zu bringen? Wir werden es nie erfahren, wenn wir es nicht ausprobieren. Also, Experimentiertheater, ist das nicht eine Idee für ein neues Projekt?
Die 2010er Jahre
Odysseus joggt durchs Markgrafentheater. Studenten und Profis widmen sich in Erlangen Homers Evergreen
von Katharina Erlenwein
Nürnberger Nachrichten, 10. Juli 2016
Lassen Sie sich bezirzen… [10:31 Minuten]
2010er: Beobachter
„Odysseus [gefangen] im Netz der Götter und Nymphen, die ihn zum Spielball machen“, das klingt ganz nach dem Durchschnittssurfer im Netz, gefangen zwischen vorgekauten Kurzmitteilungen und albernen YouTube-Videos. Eine unzweifelhaft vernetzte Welt macht uns nunmal ebenso unzweifelhaft unfrei und lässt uns eine klare Linie vergessen. Wer soll sich denn auch in den Weiten des Internet zurechtfinden oder bei Millionen von Snaps noch den Überblick behalten? Statt uns unseren eigenen Weg zu suchen vertrauen wir auf den Suchfilter von Google. Wir flüchten uns dankbar in Oberflächlichkeiten und Irrealität, weil wir dadurch kurzzeitig das Gefühl haben, wir sein erfüllt, sinnvoll beschäftigt. Wir werden permanent zerstreut, kommen vom Weg ab, lassen uns ablenken. Aber wir haben das Ziel aus den Augen verloren. Kein Wunder, dass jeder glaubt, er müsse sich selbst wiederfinden oder sich auf irgendeine Suche begeben.
Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten! Man müsste sich wie Odysseus vor dem Sirenengesang die Ohren verschließen vor all den Angeboten, Werbekampagnen, Irreführungen. Vor all dem, was uns nur von außen beeinflusst und uns von uns selber wegführt und letztendlich aus dem Boot der Gesellschaft zerrt.
Das gesamte Odyssee-Motiv ist absolut zeitlos, damals aktuell, heute aktuell, in zahllose andere Kontexte übertragen. Gerade heute, gerade jetzt wissen wir doch überhaupt nicht mehr, was wir wirklich wollen: verloren im Mediendschungel, irregeleitet von all den Trends und Angeboten. Wir bekommen von allen gesagt, dass wir alles tun können; aber alles wurde schonmal von irgendwem gemacht und anschließend auf Instagram hochgeladen und mit der gesamten Welt geteilt. Wofür lohnt es sich denn dann noch, seine Energien einzusetzen? Hinter etwas bestimmtem her zu sein, hartnäckig zu sein und dranzubleiben, durchzuhalten? Natürlich muss man das nicht, denn auf dem Weg zum vermeintlichen Ziel werden einem hundert neue Dinge angeboten, die viel leichter zu erreichen sind. Es ist im wahrsten Sinne eine Irrfahrt. Wir dümpeln ziellos durch unsere Zeit, können uns nicht entscheiden und nicht zu unserem Wort stehen. Odysseus hatte immerhin Ithaka und seine Penelope, letztendlich tief drinnen wusste er, dass er dorthin zurück möchte und hat alles dafür getan, nach Hause zu kommen. Hat ja auch grade mal zehn Jahre gedauert, das nenne ich Durchhaltevermögen!
Wir dagegen haben keinen inneren Kompass mehr, wir irren fröhlich umher, ziellos, denken, wir wären frei; frei zwischen Millionen von Möglichkeiten; frei, weil ja jeder tun und lassen kann, was er will, weil absolut ALLES möglich ist…und doch fühlen wir uns verloren und suchen uns selbst. Welche Ironie. Versteht mich nicht falsch, es ist nichts Verwerfliches dabei, ab und an etwas vom Weg abzukommen und Erfahrungen zu sammeln, vor allem solange man jung ist. Das kann sich aber nur derjenige leisten, der einen roten Faden in sich hat, einen Ariadnefaden, der ihm bei Bedarf wieder den richtigen Weg weist. Ohne den ist der Mensch heute aufgeschmissen.
Wir befinden uns irgendwo zwischen Fitnesswahn und „Alternativismus“. Heute Veganer, morgen Low-Carb, den Tag darauf gegen etwas demonstrieren, das uns gestern beim Frühstück zum ersten Mal aufgefallen ist. Wir verlieren uns in kurzweiligen Trends, die scheinbar genau das sind, was wir gerade brauchen, uns aber letztendlich nirgendwo hinbringen werden.
Hier wird das Stück als „Sportliches Erzähltheater“ und als „interaktiver Erfahrungs- und Wahrnehmungsparcours“ bezeichnet, schwappt dieser Fitnesswahn jetzt sogar schon auf die Bühnen? Nicht mal mehr das Theater ist vor all dem sicher. Und hier: „Häppchen – zum Essen und zum Hören“. Nichts als unverbindliches Bummeln von hier nach da, völlig ziel- und planlos.
Wären nicht alle so am Herumirren und auf Sinn- und Identitätssuche, dann würden wir auch nicht jedes Wort eines Trendsetters für bare Münze nehmen und nicht alles glauben, was uns vorgesetzt wird. und wir würden nicht versuchen, jedem neu aufploppenden Trend hinterherzujagen und völlig gedankenlos Parolen wie „Build the wall“ mitzugrölen. Und dann sollte man sich auch nicht wundern, wenn wirklich Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Und brandaktuell: der Brexit. Auch das Inselkönigreich ist ja gerade auf der Suche nach Selbstfindung und -bestimmtheit. Auch die Insulaner irren umher in einem Ozean von Möglichkeiten, orientierungslos setzen sie sich freiwillig Irrfahrten und Stürmen aus und wundern sich, dass sie sich – wie anscheinend ach so viele Verlorene unserer Zeit – selbst nicht mehr kennen und sich nicht finden.. So wie Großbritannien glaubt, es wäre allein auf der Weltbühne, war auch „Odyssee – eine Heimsuchung“ ein „Ein-Personen-Stück“, absolut getreu der Philosophie unserer Zeit, jeder könne der Held sein. Aber nein, so funktioniert das nicht. Das ist kein Individualismus, sondern schlicht Irrsinn. Ist das, was ihr tut, wirklich etwas, das ihr ehrlich wollt und für euch selber entschieden habt, um euer Leben zu verbessern? Oder seid ihr nicht vielleicht doch eher Spielbälle der Werbekampagnen? So wie auch Odysseus Spielball der höheren Mächte ist?
Wir sollten wieder nach festeren Werten streben, denn der Mensch braucht ganz dringend wieder etwas, an dem er sich orientieren kann, das ihn antreibt, das ihm Ziele setzt. Die Suche nach sich selbst oder wie das heißt passiert nebenbei und sollte kein Ziel sein. Wie egoistisch und kurzsichtig ist das bitte? Was soll das denn für ein merkwürdiges Lebensziel sein? So kann sich doch keine Gesellschaft weiterentwickeln… Niemand tut was fürs Gemeinwohl… Warum ist es denn so schrecklich, Teil von etwas zu sein? Jeder nur Ich, Ich, Ich. Aber warum Individualismus? Dass man da frei ist, ist doch nur eine Illusion! Und außerdem funktioniert eine Gesellschaft nicht, die nur aus Individualisten besteht, sie bricht zusammen. Wenn der Pilot plötzlich entscheidet, er geht spontan auf Selbstfindungstrip nach Goa, fliegt das Flugzeug halt nicht mehr zurück. WIR als Gesellschaft funktionieren nur, wenn sich der Großteil kollektivistisch benimmt statt individualistisch. Das ICH darf nicht so im Mittelpunkt stehen.
Und ach Gott, der inflationäre Krisenbegriff: Eurokrise, Flüchtlingskrise, Atomkrise, Snowden-Affäre, Berliner Flughafen, Dieselskandal…Das ist noch so ein Phänomen, das unser Jahrzehnt prägt. Alles und jeder wird zur Krise erklärt. Oder zur Affäre. Der Ausnahmezustand ist im Grunde Normalzustand geworden. Ist doch klar, dass so alles in Wanken gerät. Der Mensch hat seinen Glauben verloren, an Gott, an einen bestimmten Wertekanon, ist ja auch egal, an was genau; Tatsache ist, dass er damit auch sein Vertrauen in die Gesellschaft und vor allem an seinen eigenen Platz darin verloren hat. Dann stellt natürlich jede noch so kleine „Krise“, die selbstverständlich auch noch zusätzlich durch sämtliche Medien aufgebauscht wird, unser Weltbild auf den Kopf. Dann hat man natürlich das Gefühl, man müsste sich selbst und seinen Platz finden in all dem Durcheinander, dann fühlt man sich natürlich identitätslos. Es geht wirklich alles den Bach runter.
Danksagung
Ganz besonders möchte ich mich bei meinem Sprecher Janis Hanenberg bedanken, der die fünf Charaktere wunderbar interpretiert und ihnen Leben eingehaucht hat. Besonderer Dank geht an André Studt, der das Projekt von Anfang an äußerst produktiv unterstützt und gefördert hat. Vielen Dank auch an Arne Schönfeld für die große Hilfe bei der Ideensammlung und dem Korrekturlesen der Texte.